Zusammenfassung
Kunst schaffen eröffnet Wege. Wer seine volle Aufmerksamkeit und Hingabe dem Kreativen Arbeiten widmet, hat die Chance, in einen tiefen schöpferischen Prozess einzutauchen, der die Selbstwahrnehmung und das Empfinden, das Fühlen und das Denken verändert. Indem Menschen sich und ihre Resonanz auf die Welt ausdrücken, treten sie in Kontakt mit ihrem Inneren und in einen Austausch und eine Verbindung mit ihrer Umwelt.
Als psychische Resilienz wird die Widerstandskraft bezeichnet, mit der Menschen Extrembelastungen durchstehen, ohne psychisch krank zu werden.
Resilienz kann durch ressourcenorientierte Psychotherapie entwickelt werden.
Kreatives Arbeiten wird in dem beschriebenen Konzept nicht als Hilfsmittel für deutende psychotherapeutische Interventionen genutzt, sondern als Zu-gangsweg zum eigenen schöpferischen Potenzial, zum inneren Gestaltungs-willen, zur Ausdruckskraft, zur Selbstwirksamkeit und Freude am Schaffen sowie der Lebendigkeit, die dabei entsteht. Das Konzept der „Vertieften Er-fahrungen" beinhaltet, kreatives Arbeiten als regelmäßige Übung in das künftige Leben zu integrieren. Psychische Widerstandskraft erfordert über einen konstruktiven Selbstumgang hinaus die Gestaltung von unterstützenden Beziehungen sowie die Sorge für systemische und ökologische Kontextfaktoren.
Einordnung
Resilienz beschreibt ein Bündel von Fähigkeiten, die dazu führen, dass Menschen mit sich und ihrem Leben zufrieden sind trotz belastender Erfahrungen, Schwierigkeiten, Trennungen, Verluste, Krisen, Erkrankungen, Traumatisie-rungen oder anderer Einschränkungen und Behinderungen. Die Zufriedenheit bezieht sich insbesondere auf eine wohlwollende Haltung sich selber gegenüber (Ich bin o. k), auf gelingende Beziehungen und das Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit sowie die Fähigkeit, aus einer Krise oder einer belastenden Erfahrung gestärkt hervorzugehen. Das Konzept der Resilienz ist eng verknüpft mit den Ideen der Positiven Psychologie (Martin Seligman
2012), die im Blick auf die psychische Gesundheit auf die Stärken, die Fähigkeiten und Potenziale von Menschen fokussiert, und mit dem Konzept der Sa-lutogenese (siehe Petzold 2010).
Kunst kann vegetative, immunologische, psychische, soziale, seelische und spirituelle Prozesse in Menschen anstoßen sowie intern wahrgenommene als auch mit Mitmenschen geteilte Erfahrungen vermitteln. Sowohl aktiv betrie. bene künstlerische Tätigkeit als auch rein rezeptiv aufgenommene Kunst ist in der Lage, nicht nur unsere Gestimmtheit, unsere Gefühle und unsere Verbundenheit anzuregen, sie verändert auch unsere Atmung, unseren Herzschlag und unsere Abwehrkräfte. In der Psychosomatischen Medizin werden diese Wechselwirkungen gezielt eingesetzt, um Menschen „zu sich" und in Kontakt mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten zu bringen, um die Selbstwirksamkeit, die Krisenkompetenz und die Widerstandskräfte zu entwickeln.
Nonverbale, künstlerische und kreative Therapiemethoden beinhalten grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten. Sie werden als Ausdrucksmöglich-keit für innere (manchmal unbewusste) Themen, Belastungen und Emotionen genutzt, indem man dem inneren Druck durch Ausdruck begegnet. Sie fördern Bilder, Erinnerungen, Gefühle und Perspektiven zutage, die somit verstanden, bearbeitet und eingeordnet werden können. Sie dienen der psychischen Stabilisierung in Krisensituationen, indem sie von traumatisierten Patient*innen beispielsweise genutzt werden, um aus betäubenden dissoziativen Zuständen herauszufinden. Mit ihrer Hilfe lernen Menschen, dysfunktionale Gedanken-schleifen und schwer auszuhaltende Gefühlszustände zu beenden. Diese und viele weitere Aspekte der Kunst- und Kreativtherapie können unmittelbar für den therapeutischen Prozess genutzt werden. Die kunst- oder kreativthera-peutischen Methoden haben sich als essenzielle Bestandteile in den Konzepten der multimodalen stationären psychosomatischen Behandlung etabliert.
Für den hier beschriebenen Ansatz der psychischen Nachhaltigkeit durch die Förderung von einem Bündel von Fähigkeiten der persönlichen Widerstandskraft (der individuellen Resilienz) beziehen wir uns auf Aspekte der Therapie, die unmittelbar die Ressourcen fördern: den Zugang zu den eigenen schöpferischen, kreativen Gestaltungskräften; zur Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung durch das Konzept der „Vertieften Erfahrungen".
Vertiefte Erfahrung
Für eine Umstrukturierung neuronaler Netzwerke sind emotionale Prozesse unabdingbar. Nachhaltige Veränderungen sind dann möglich, wenn Menschen seelisch berührt werden und die emotional korrigierenden Erfahrungen „unter die Haut" gehen. Die Bereitschaft, sich auf solche „Vertieften Erfahrungen" einzulassen, erhöht sich mit jeder positiven Erfahrung, die damit gemacht wird; die Überwindung wird immer weniger. Ziel ist, dass wir durch die Intensität das Bedürfnis entwickeln, unserem Organismus diese Erfahrungen immer wieder zu ermöglichen, um so den Zugang zu den eigenen schöpferischen Ausdrucks- und Teilhabemöglichkeiten offen zu halten und zu intensivieren.
Wissenschaftlich kann gezeigt werden, dass sich unser Gehirn bis ins hohe Alter plastisch verändert, abhängig von den Reizen und Anforderungen, denen es ausgesetzt ist. Die Fähigkeit zur Krisenbewältigung und Stressresistenz lässt sich gezielt trainieren. Die in der Vertiefung aktivierten Motivations- und Glückshormone sorgen dafür, dass die Erfahrungen zu einem Bedürfnis wer-den. Vertiefte Erfahrungen führen zu einer gesteigerten Neuroplastizität. Die Urheberschaftserfahrung und die dabei empfundene Selbstwirksamkeit bilden sich im Gehirn in Form von neuronalen Netzwerken ab, die fortan als physiologische Struktur zur Verfügung stehen. Somit ist die Grundlage dafür gelegt, dass die Betätigungen und die dadurch erreichbaren Erfahrungen auch nach einer Behandlung zu einer fortgesetzten Übung werden, d. h. regelmäßig praktiziert und aufgefrischt werden. Die vertieften Erfahrungen können als lebenslange Werkzeuge genutzt werden, die bei Belastungen zur Selbsthilfe eingesetzt werden können. Durch die Ressourcenarbeit werden
Selbstheilungskräfte aktiviert.
Methoden
Das Konzept der „Vertieften Erfahrungen" beruht darauf, Menschen den Zugang zu einem inneren Prozess zu eröffnen, bei dem sie mehr Momente von Motivation, Freude, Schaffenslust sowie schöpferischer Kraft und Kreativität erfahren, dabei „zu sich" kommen, sich ein Zugang zu ihren Ressourcen/Poten-zialen eröffnet, sie in einen „Flow" (Csikszentmihalyi 2007) kommen und sich selbstwirksam, mit der Welt verbunden, schöpferisch aktiv und der eigenen
Menschlichkeit bewusst zu werden.
Die Schwierigkeit besteht darin, Menschen für diese Erfahrungen zu öff-nen. Das gelingt oft nur darüber, dass die überhöhten Erwartungen an das, was entstehen soll, radikal beiseitegestellt werden und sich auf den kreativen Prozess fokussiert wird. Um den Prozess zu begleiten, ist es erforder-lich, sich selber in eine behutsame, nicht wertende, frei gebende Haltung zu begeben. Man muss helfen, die inneren Hürden zu überwinden, die Menschen im Wege stehen, und eine offene, unterstützende und vertrauens-
volle Atmosphäre schaffen. Die Vorstellung, nichts zu können, nicht zu genügen und die Scham, sich damit zu zeigen, fördert Vermeidungsverhalten.
Die Erwartung, es müsse etwas Besonderes entstehen, fördert die Selbstabwertung. Menschen versuchen, die Situation zu kontrollieren, „gut" und „kreativ" zu sein sowie sich der rationalen Steuerung durch ihre Ansprüche zu unterwerfen, wodurch nur das Gegenteil von einer „Flow-Er-fahrung" und oft nur „Gekünsteltes" entsteht. Kreatives Handeln erzeugt nur dann eine seelische Bewegung, wenn die Bereitschaft zur Hingabe ent-steht, mit der man sich dem Schaffensprozess überlässt. Mit einer Kombination aus Mut und Vertrauen können kreative Schöpfungsmomente ge-lingen, in denen Menschen sich mit ihrer innersten Lebenskraft verbinden.
Wenn sie sich zeigt, wenn sie im Prozess, in der Kunst sichtbar und erlebbar wird, dann berührt sie nicht nur die Schaffenden selber, sondern auch die, die sehen und miterleben können. Menschen fühlen eine tiefe Sinn-haftigkeit, wenn sie das, was sie im Inneren bewegt, was sie spüren und empfinden, kommunizieren können. Menschen ermöglichen sich mit ihrer Kreativität eine tiefe Verbindung zur eigenen Seele, zu der Gruppe, zu der sie gehören, und zur Umwelt, in der sie leben. Wenn wir etwas in die Welt setzen, dann können wir von der Welt Resonanz erwarten.
Systemischer und ökologische Aspekte
In der ressourcenorientierten Psychotherapie wird an der Kompetenz gear-beitet, die eigene Zukunft lebenswert zu gestalten. Die Konzepte der Psychotherapie zielen zunächst auf die individuellen Fähigkeiten und Kräfte ab, die das eigene Leben betreffen. Da die Beziehungen, die Gemeinschaft, der soziale und psychische Kontext eine so zentrale Rolle spielen, umfasst eine Lebens-kompetenz natürlich auch die Beziehungsfähigkeit und -gestaltung sowie die Aufgabe, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Das alles hätte aber keinen Sinn, wenn die physische Umwelt ein lebenswertes Leben nicht ermöglicht.
Um das eigene Überleben zu sichern, müssen die psychische, die soziale und die ökologische Nachhaltigkeit gesichert werden. Die Krisenfestigkeit und Selbstfürsorge beschränken sich nicht auf die Person, sondern umfassen alle mit ihrem zusammenhängenden System. Ein stabiles Vertrauen in die eigene Überlebensfähigkeit entwickelt sich also erst, wenn auch die Einflussmöglichkeiten auf die Kontextbedingungen genutzt werden. In Anlehnung an das Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie (zur Vertiefung siehe Schnei-dewind 2018) erweitern wir den Begriff der Zukunftskunst um die psychischen Fertigkeiten sowie um die innere Haltung und Fähigkeit der Selbstfür-sorge, der Herzöffnung, der Empathie und Verbundenheit, der Motivation und kreativen Schaffenskraft.
Limitierung
Zum einen ist nicht jede ressourcenorientierte Arbeit in jeder Behandlung wirksam. Eine erfolgreiche Anwendung erfordert, individuell auf die psychische VerFassung und die Zugangsmöglichkeiten der Patient*innen einzugehen sowie die richtige Chemie zwischen Patient*in und Therapeut*in. Zum anderen stellt die Beschäftigung mit Kunst oder künstlerischer Arbeit per se noch kein Resilienz-faktor dar; es wäre vermessen, Kunst als universell heilsame Beschäftigung zu propagieren. Je nach innerer Verfassung und Kontext kann künstlerisches Arbeiten auch in die Isolation führen, traumaassozierte Netzwerke aktivieren, dissoziative oder wahnhafte Bewusstseinszustände auslösen. In der Behandlung psychisch kranker Menschen ist für die Anwendung kreativer Methoden eine psychische Untersuchung und Indikationsstellung erforderlich.
Literatur
(sikszentmihalyi, M. (2010): Flow. Das Geheimnis des Glücks. 13. Aufl. Stuttgart.
Esch, T. (2017): Die Neurobiologie des Glücks. Wie die Positive Psychologie die Medizin verändert. 3. Aufl. Stuttgart.
Schneidewind, U. (2018): Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt am Main.
Seligman, M. (2012): Flourish - Wie Menschen aufblühen: Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens. München.
Petzold, Th. D. (2010): Lust und Leistung und Salutogenese. Bad Gandersheim.
Autor
Dr. Jochen von Wahlert ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psy-chotherapie, Körper- und Traumatherapeut und hat 2016 die Psychosomatische Privatklinik Bad Grönenbach gegründet, die er leitet. Er ist Mitglied verschiedener Fachgesellschaften (DGPM, DGPPN, AIM), verfügt über langjährige
Erfahrung in Organisationsentwicklung und hat u. a. über das Thema Gesundes
Führen publiziert. www.psychosomatische-privatklinik.eu.